Im Dialog mit Amazon – Mallorca Zeitung – Nr. 882 – 30. März 2017

Der britische Künstler Martin John Callanan zeigt bei Horrach Moyà das Wechselspiel von System und Mensch, Von Brigitte Kramer

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Eigentlich müssten wir alle unter Atemnot oder Platzangst leiden. Denn immer dichter legen sich die Fäden des weltweiten digitalen Netzes um uns. Immer mehr Stun- den verbringen wir vor kleinen oder großen Bildschirmen, geben Daten ein, hinterlassen Spuren. Einen Teil der Zeit im Internet verbringen wir mit Dingen, die nicht unbedingt lebensnotwendig sind. Martin John Callanan geht es nicht anders. Nur verbringt er sei- ne Zeit im Netz mit Sinnvollem. Er macht Kunst. Derzeit zeigt er sie in der Galerie Horrach Moyà an der Plaça de la Drassana.

„Martin has been alive +12858 days“, schreibt er auf seiner Web- site. Für alle Leser, die das Spiel mit Zahlen weniger lieben als Callanan: Er wurde 1982 in einer Kleinstadt bei Birmingham gebo- ren. Seit mehr als fünf Jahren lebt er in Berlin und wird als Künst- ler von der ehrwürdigen Royal Society of Arts gefördert. Damit steht er in einer Reihe mit Charles Dickens, Karl Marx oder Benja- min Franklin. Nach Palma hat ihn der Kunsthistoriker Pau Waelder gebracht. Es ist die vierte Ausstel- lung des Briten auf der Insel.

Callanan interessiert das Thema Individuum und System. In seinen Installationen unter- sucht er die Interaktion zwischen Mensch und Netz, zeichnet die Interaktion nach. Oft übernimmt oder verändert er die Funktions- weise von Programmen, Syste- men oder Anwendungen und deu- tet sie neu. Damit hinterfragt er die Zustände, demontiert unsere Gewohnheiten und sorgt auch noch für Witz und Überraschung. Der Effekt sitzt auch deshalb, weil seine Arbeiten so clean, so zurückhaltend und unterkühlt wir- ken: Bildschirme, Kleingedruck- tes, ordentlich Aufgereihtes. Im Gespräch mit ihm wird schnell die Tragweite seiner Arbeit deutlich. Dem uninformierten Besucher der Ausstellung „Actions“ entgeht sie aber, ist zu befürchten.

 

Drei Arbeiten, alle schon ein- mal ausgestellt, bilden die Schau. Da ist „I Cannot Not Communica- te“ von 2015: Eine Reihe von hun- dert Büchern auf einem blanken Holztisch. Daneben liegt eine Lis- te mit allen ausgestellten Titeln. „Das sind die Bücher, die Amazon mir zum Lesen empfiehlt“, sagt er mit einem leichten Lächeln in den Mundwinkeln. Er hat tatsächlich den Spruch „Kunden, die Artikel in Ihrem Einkaufswagen gekauft haben, haben auch Folgendes ge- kauft“ ernst genommen und die hundert ersten Empfehlungen in den Einkaufswagen gelegt. Da- runter sind Fantasy-Romane oder ein Buch auf Französisch, „dabei kann ich gar kein Französisch!“, sagt Callanan. Andere Empfeh- lungen sind einleuchtender: Bü- cher über Kunst, Soziologie, Phi- losophie, von Zygmunt Bauman, Ulrich Beck oder John Berger.

 

Seitdem er im Mai 2015 auf Amazon gehört hat, ist Callanan nicht mehr normaler Kunde des Online-Geschäfts. „Ich bin mit dem System in Beziehung getre- ten“, sagt er mit leiser Stimme, „vielleicht lüfte ich irgendwann das Geheimnis seines Algorith- mus.“ Callanan wird weiterhin auf Amazon hören, immer wieder Empfehlungen kaufen und dabei versuchen, das System zu ent- schlüsseln. Das Ziel dieser Spie- lerei wäre in dem unwahrscheinli- chen Fall erreicht, wenn Callanan schon vorher wüsste, was Ama- zon ihm empfehlen wird. Es wird immer schwieriger, den Beweis zu liefern, dass der Mensch dem Computer überlegen ist.

 

Noch mehr witzige Tüfteleien gibt’s im zentralen, mit gepfleg- ten, alten Bodenfliesen ausge- legten Raum. „Each and Every Command“ heißt die Arbeit von 2016. Sie zeigt auf sechs hellen Tischen elf dicke, graue Ordner. In ihnen sind auf hellgrauem Re- cyclingpapier „4.144.676 Wör- ter in 198.605 Zeilen“ gedruckt, wie Callanan sagt. Inhaltlich sa- gen sie gar nichts: Es ist die vom Programm Adobe Photoshop ge- speicherte Chronik der Arbeit, die Callanan in den vergangenen zwölf Jahren geleistet hat. Das Programm hat jeden Schritt bei seiner Bearbeitung von Fotos für die Nachwelt aufbewahrt: Callanan zeigt dieses Bemü- hen nun der Welt. Fast schon rührend sind die unsinnig vie- len Seiten, „acht Mal so viel wie Shakespeares Gesamtwerk“, sagt Callanan wieder mit diesem leich- ten Grinsen.

 

Die exponierte Emsigkeit des Programms wirft Fragen auf, zu Sinn und Unsinn von Archiven, von Erinnerung, von Lernen. Und die Installation hinterfragt auch den Mythos vom kreativen Prozess, dem Work in Progress: Wie wichtig ist es, die Arbeitsschritte eines Künstlers zu dokumentieren?

Trotz aller Ironie und Selbstre- ferenz gibt es „Each and Every Command“ als digitale Version in der British Library, und im Ama- zon Kindle Store kann man das Werk für zwei Pfund zum Lesen auf einem E-Reader kaufen: Nicht ganz so spannend wie die Lektüre eines Telefonbuchs.

 

Die dritte Arbeit „Departure of All“ aus dem Jahr 2013 schließ- lich stimuliert die Fantasie des Betrachters ungemein – wenn man weiß oder intuitiv erfasst, worum es geht. Callanan hat eine Anzeigetafel mit Abflugzeiten an die Wand montiert. Bei längerer Betrachtung bemerkt man, dass es sich um einen fiktiven Flughafen handeln muss. Nein, es ist die An- zeige aller Flüge, die in Echtzeit von einem internationalen Flugha- fen abheben. Die Anzeige scrollt immer weiter oben, immer neue Flüge rutschen von unten nach, sie sind alle real und die Maschinen rollen im Moment des Betrachtens irgendwo über eine Startbahn. „Man bemerkt, wie eng alles ver- knüpft ist am Himmel“, sagt Pau Waelder, „und dabei kann einem schnell ein bisschen schwinde- lig werden.“ Der blaue Himmel taucht vor dem inneren Auge auf, durchzogen von weißen Kondens- streifen, immer dichter werden sie, irgendwann ist das Netz so dicht, dass man kaum noch das Blau des Himmels sieht. Man könnte Atemnot oder Platzangst bekommen: Das Netz ist überall, nicht nur hinter einem Bildschirm.