
Der britische Künstler Martin John Callanan zeigt bei Horrach Moyà das Wechselspiel von System und Mensch, Von Brigitte Kramer
Eigentlich müssten wir alle unter Atemnot oder Platzangst leiden. Denn immer dichter legen sich die Fäden des weltweiten digitalen Netzes um uns. Immer mehr Stunden verbringen wir vor kleinen oder großen Bildschirmen, geben Daten ein, hinterlassen Spuren. Einen Teil der Zeit im Internet verbringen wir mit Dingen, die nicht unbedingt lebensnotwendig sind. Martin John Callanan geht es nicht anders. Nur verbringt er seine Zeit im Netz mit Sinnvollem. Er macht Kunst. Derzeit zeigt er sie in der Galerie Horrach Moyà an der Plaça de la Drassana.
„Martin has been alive +12858 days“, schreibt er auf seiner Website. Für alle Leser, die das Spiel mit Zahlen weniger lieben als Callanan: Er wurde 1982 in einer Kleinstadt bei Birmingham geboren. Seit mehr als fünf Jahren lebt er in Berlin und wird als Künstler von der ehrwürdigen Royal Society of Arts gefördert. Damit steht er in einer Reihe mit Charles Dickens, Karl Marx oder Benjamin Franklin. Nach Palma hat ihn der Kunsthistoriker Pau Waelder gebracht. Es ist die vierte Ausstellung des Briten auf der Insel.
Callanan interessiert das Thema Individuum und System. In seinen Installationen untersucht er die Interaktion zwischen Mensch und Netz, zeichnet die Interaktion nach. Oft übernimmt oder verändert er die Funktionsweise von Programmen, Systemen oder Anwendungen und deutet sie neu. Damit hinterfragt er die Zustände, demontiert unsere Gewohnheiten und sorgt auch noch für Witz und Überraschung. Der Effekt sitzt auch deshalb, weil seine Arbeiten so clean, so zurückhaltend und unterkühlt wirken: Bildschirme, Kleingedrucktes, ordentlich Aufgereihtes. Im Gespräch mit ihm wird schnell die Tragweite seiner Arbeit deutlich. Dem uninformierten Besucher der Ausstellung „Actions“ entgeht sie aber, ist zu befürchten.
Drei Arbeiten, alle schon einmal ausgestellt, bilden die Schau. Da ist „I Cannot Not Communicate“ von 2015: Eine Reihe von hundert Büchern auf einem blanken Holztisch. Daneben liegt eine Liste mit allen ausgestellten Titeln. „Das sind die Bücher, die Amazon mir zum Lesen empfiehlt“, sagt er mit einem leichten Lächeln in den Mundwinkeln. Er hat tatsächlich den Spruch „Kunden, die Artikel in Ihrem Einkaufswagen gekauft haben, haben auch Folgendes gekauft“ ernst genommen und die hundert ersten Empfehlungen in den Einkaufswagen gelegt. Darunter sind Fantasy-Romane oder ein Buch auf Französisch, „dabei kann ich gar kein Französisch!“, sagt Callanan. Andere Empfehlungen sind einleuchtender: Bücher über Kunst, Soziologie, Philosophie, von Zygmunt Bauman, Ulrich Beck oder John Berger.
Seitdem er im Mai 2015 auf Amazon gehört hat, ist Callanan nicht mehr normaler Kunde des Online-Geschäfts. „Ich bin mit dem System in Beziehung getreten“, sagt er mit leiser Stimme, „vielleicht lüfte ich irgendwann das Geheimnis seines Algorithmus.“ Callanan wird weiterhin auf Amazon hören, immer wieder Empfehlungen kaufen und dabei versuchen, das System zu entschlüsseln. Das Ziel dieser Spielerei wäre in dem unwahrscheinlichen Fall erreicht, wenn Callanan schon vorher wüsste, was Amazon ihm empfehlen wird. Es wird immer schwieriger, den Beweis zu liefern, dass der Mensch dem Computer überlegen ist.
Noch mehr witzige Tüfteleien gibt’s im zentralen, mit gepflegten, alten Bodenfliesen ausgelegten Raum. „Each and Every Command“ heißt die Arbeit von 2016. Sie zeigt auf sechs hellen Tischen elf dicke, graue Ordner. In ihnen sind auf hellgrauem Recyclingpapier „4.144.676 Wörter in 198.605 Zeilen“ gedruckt, wie Callanan sagt. Inhaltlich sagen sie gar nichts: Es ist die vom Programm Adobe Photoshop gespeicherte Chronik der Arbeit, die Callanan in den vergangenen zwölf Jahren geleistet hat. Das Programm hat jeden Schritt bei seiner Bearbeitung von Fotos für die Nachwelt aufbewahrt: Callanan zeigt dieses Bemühen nun der Welt. Fast schon rührend sind die unsinnig vielen Seiten, „acht Mal so viel wie Shakespeares Gesamtwerk“, sagt Callanan wieder mit diesem leichten Grinsen.
Die exponierte Emsigkeit des Programms wirft Fragen auf, zu Sinn und Unsinn von Archiven, von Erinnerung, von Lernen. Und die Installation hinterfragt auch den Mythos vom kreativen Prozess, dem Work in Progress: Wie wichtig ist es, die Arbeitsschritte eines Künstlers zu dokumentieren?
Trotz aller Ironie und Selbstreferenz gibt es „Each and Every Command“ als digitale Version in der British Library, und im Amazon Kindle Store kann man das Werk für zwei Pfund zum Lesen auf einem E-Reader kaufen: Nicht ganz so spannend wie die Lektüre eines Telefonbuchs.
Die dritte Arbeit „Departure of All“ aus dem Jahr 2013 schließlich stimuliert die Fantasie des Betrachters ungemein – wenn man weiß oder intuitiv erfasst, worum es geht. Callanan hat eine Anzeigetafel mit Abflugzeiten an die Wand montiert. Bei längerer Betrachtung bemerkt man, dass es sich um einen fiktiven Flughafen handeln muss. Nein, es ist die Anzeige aller Flüge, die in Echtzeit von einem internationalen Flughafen abheben. Die Anzeige scrollt immer weiter oben, immer neue Flüge rutschen von unten nach, sie sind alle real und die Maschinen rollen im Moment des Betrachtens irgendwo über eine Startbahn. „Man bemerkt, wie eng alles verknüpft ist am Himmel“, sagt Pau Waelder, „und dabei kann einem schnell ein bisschen schwindelig werden.“ Der blaue Himmel taucht vor dem inneren Auge auf, durchzogen von weißen Kondensstreifen, immer dichter werden sie, irgendwann ist das Netz so dicht, dass man kaum noch das Blau des Himmels sieht. Man könnte Atemnot oder Platzangst bekommen: Das Netz ist überall, nicht nur hinter einem Bildschirm.